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 Soziologie
Soziologie. Allgemeine Grundlagen.
von Hartmut Esser (Campus 1999) bei AMAZON.de


Die Logik der Situation in der modernen Rational Choice: Bounded Rationality, institutionelle Wissenskapazitäten und Akteurfiktionen

von Thomas Siebe © 1995

1. Einführung

1.1 Thema

Rational Choice-Theorien haben nach einer Durststrecke in den letzten 10-15 Jahren einen erneuten Aufschwung in Soziologie und Psychologie genommen. Das mag seine Ursache zum einen in der zunehmenden Kritik an Segmenten der heute gängigen Versionen der modernen Systemtheorie haben, zum anderen aber hat die Rational Choice auch auf wesentliche Kritikpunkte reagiert.

Warum haben soziale Akteure gerade die Interessen, die sie haben ? Was definiert in einer Entscheidungssituation Nutzen und Kosten von Akteuren ? Diese Einwände waren Standardkritikpunkte an der Theorie der rationalen Wahl, besonders an Modellen verhaltenstheoretischer (HOMANS) und klassisch-ökonomischer Herkunft. Modernere Rational Choice-Ansätze wie die Theorie von Hartmut ESSER haben versucht, das Problem über die Einführung von Institutionen als generalisierte Handlungsmuster und von situationalen Interessen- und Wissenskapazitäten, über die Akteure disponieren, zu lösen.
Uwe SCHIMANK dagegen sieht in den kritischen Fragen ein tiefer liegendes Problem formuliert und präsentiert als mögliche Lösung eine interessante Verbindung zwischen Elementen der Systemtheorie und der Rational Choice.

Im Rahmen dieses Aufsatzes soll - z.T. an Beispielen - die Theorie Hartmut ESSERS als eine Fortentwicklung der Rational Choice dargestellt und das o.g. Problem erläutert werden. Der Vorschlag SCHIMANKS soll dann anschließend im Kontext der Problemstellung nachgezeichnet und erörtert werden. Im ersten Kapitel beginne ich mit einem kurzen Entwurf des allgemeinen Modells der Rational Choice. Es folgt eine Darstellung der Variante ESSERS in Kapitel 2 und von SCHIMANKS Vorschlag in Kapitel 3. Der Aufsatz schließt mit der Zusammenfassung in Kapitel 4.

1.2 Grundlagen der Rational Choice-Theorien

Rational Choice-Theorien sind dem methodologischen Individualismus verpflichtet. Das Prinzip des methodologischen Individualismus als einer sozialphilosophisch-epistemologischen Position in der Soziologie ist die Erklärung sozialer Tatbestände aus dem Zusammenspiel individueller Handlungen unter verschiedenen Bedingungen. Soziale Phänomene wie Normen oder Institutionen sind diesem Prinzip gemäß Produkte der Aggregation individueller Attitüden, Entscheidungen und Handlungen. Explananda werden logisch aus einem Explanans, bestehend aus einer allgemeinen Handlungsregel und Randbedingungen als speziellen Aussagen deduziert. Zwar ist es Ziel methodologisch-individualistischer Ansätze, soziale Tatbestände, Ereignisse, Strukturen oder Prozesse über die Nomologisierung individuellen Verhaltens oder Handelns zu erklären, es findet sich aber auch das Postulat, daß die "sozialen Bedingungen individueller Handlungen und kollektive(r) Folgen dieser Handlungen berücksichtigt werden" (RAUB,VOSS 1981: 9). Der Kern von Rational Choice-Theorien besteht aus wenigen Annahmen und einer Entscheidungsregel. Nach dieser Regel handeln Individuen intentional und nehmen eine rationale Bewertung der von ihnen wahrgenommenen Handlungsalternativen nach deren Kosten und Nutzen vor. Die Akteure verhalten sich nutzenmaximierend und wählen aus einem Set von Handlungsalternativen diejenige Handlungsalternative aus, die bezüglich der zu erwartenden Handlungskonsequenz den größten Nutzen verspricht. Jedes Handeln eines Individuums führt - da Individuen in verschiedenen Formen der Dependenz und Interdependenz zueinander stehen - zur Externalisierung: Das Handeln hat Folgen, die sich der Kontrolle des einzelnen Akteurs entziehen und sich in der Aggregation vieler Handlungen zu kollektiven Phänomenen, z.B. Normen verdichten. Eine Realität sui generis unabhängig von dem Handeln und der Wahrnehmung der Individuen haben diese Phänomene nicht.

1.3 Das klassische Modell des homo oeconomicus

Die kritische Frage ist nun, wie die Theorie zu den Inhalten der Kosten und Nutzen der Akteure kommt oder genauer, wodurch die Interessen, Ziele und Präferenzen der Akteure in einer Entscheidungssituation bestimmt werden. Im Menschenmodell der neoklassischen Ökonomie, dem homo oeconomicus, ist eine Antwort auf diese Frage nicht zu finden. Für den homo oeconomicus [...oder auch den homo psychologicus der Verhaltenstheorie...] wird angenommen, daß er seinen Nutzen auf der Basis perfekter Rationalität, vollkommener Informiertheit und nach festgeordneten Präferenzen im Rahmen gegebener Restriktionen der Ressourcen maximiert. Das Modell stellt keine Vereinfachung oder Typisierung der menschlichen Natur dar, sondern ist schlicht defizitär. Im Gegensatz zu Menschen in der sozialen Realität hat es der homo oeconomicus nicht mit dem Problem der Unsicherheit zu tun, weder bezüglich seiner Erwartung betreffend Handlungskonsequenzen noch betreffend der Definition einer Situation. Vorausgesetzt werden stabile, weitgehend situationsunabhängige Präferenzen in der Wahl der Handlung. Das Modell ist weder auf die Kreativität noch die Kognitivität von Akteuren angewiesen und erfaßt damit ein wesentliches Element menschlichen Denkens und Handelns nicht. Interessen, Ziele und Nutzen müssen bei diesem Modell von außen postuliert werden. Die Trennung der individuellen Präferenzen der Akteure von den Randbedingungen der speziellen sozialen Situation führt ganz offensichtlich zu dem unrealistischen Postulat einer objektiven Nutzenfunktion. Tatsächlich werden in bestimmten Rational Choice-Theorien, z.B. dem verhaltenstheoretischen Ansatz von G.C. HOMANS oder ökonomischen Ansätzen (OPP, COLEMAN) Kosten und Nutzen bzw. negative und positive Verstärker lediglich aufgrund von alltagsweltlichen Plausibilitäten oder situationsspezifischer Opportunitäten zugeschrieben.

2. Die Theorie Hartmut ESSERS

2.1 Das RREEMM-Modell

Als Gegenpart des klassischen homo oeconomicus hat die Soziologie das Menschenbild des homo sociologicus hervorgebracht, der besonders populär wurde in seiner Variante als Modell der Rollentheorie: Danach sind die internalisierten Normen und externen Sanktionen handlungsleitend für den Akteur. Handlungsselektionen sind in diesem Modell normativ determiniert. Es ist das Bild des "Sozialidioten", dessen Interessen und Ziele durch den Automatismus der Normerfüllung bestimmt werden. Im krassen Gegensatz zum homo oeconomicus, der völlig frei von sozialen Institutionen handelt, ist der homo sociologicus des freien Willens und einer Varianz des Handelns beraubt. Die beiden klassischen Modelle vom Menschen sind - wie die Theorien, die auf ihnen basieren - inzwischen als zu einseitig und für die Zwecke einer Akteurtheorie bzw. soziologischen Erklärung als weitgehend unbrauchbar erkannt worden. Sie enthalten aber für die Beschreibung menschlichen Verhaltens wesentliche Aspekte, die von LINDENBERG (Vgl. ESSER 1993:283) in das sogenannte RREEMM-Modell eingearbeitet wurden. Demnach ist der Akteur ein restricted, resourceful, evaluating, expecting, maximizing man, eine Synthese aus dem homo oeconomicus und aus Varianten des homo sociologicus. Dieses spezielle Modell vom Menschen berücksichtigt die Restriktionen und keineswegs sicheren, subjektiven Erwartungen, denen Akteure von Situation zu Situation unterliegen, aber auch ihre Findigkeit und Kreativität sowie eine gewisse Autonomie gegenüber der "objektiven" Kraft der sozialen Beschränkungen. Auf Basis dieses Modells entwirft ESSER seine Handlungstheorie.

2.2 Bounded Rationality und satisficing

Die unter 1.2. eingeführte Handlungsregel muß nun vor dem Hintergrund des RREEMM-Modells spezifiziert werden: Die Akteure verhalten sich nutzenmaximierend und wählen aus einem perzipierten Set von Handlungsalternativen diejenige Handlungsalternative aus, die bezüglich der zu erwartenden Handlungskonsequenz den größten subjektiven Nutzen verspricht. Hinter dieser veränderten Maximierungsregel steht das von Herbert SIMON geschaffene Alternativprogramm zu einer globalen oder perfekten Rationalität, wie sie in den Annahmen zum homo oeconomicus impliziert ist, die Bounded Rationality oder eingeschränkte Rationalität. Danach haben Menschen nur einen begrenzten Zugang zu Informationsressourcen z.B. auch infolge Zeitmangel, sie sind restringiert durch begrenzte Informations- verarbeitungskapazität infolge psychologischer wie auch physiologischer Schwellenwerte, sind vergeßlich und orientieren sich an situationalen Befriedigungsniveaus. Rationalität ist nach diesem Programm nicht mehr die perfekte Anpassung der Mittel an die Zwecke, sondern "...denotes a style or behavior (a) that is appropriate to the achievement of given goals, (b) within the limits imposed by given conditions and constraints." (SIMON, zit.n. DÖRENBACH 1982:19). Die Bounded Rationality ist somit ein universeller, natürlicher constraint, der die Wahrnehmung vorhandener Wahlalternativen filtert. Die Bedingungen der Entscheidungssituation - sowohl physikalischer als auch sozialer Natur - stellen einen anderen, einen variablen constraint dar. Da Akteure also ungleich einem Computer Alternativen des Handelns nicht mehr in ihrer ganzen Mannigfaltigkeit suchen und "durchrechnen", brechen sie den Evaluationsvorgang spätestens dann ab, wenn die Kosten der Suche und Evaluation den subjektiv eingeschätzten Nutzen des Zieles erreicht oder sie eine Lösung gefunden haben, die eine zufriedenstellende, wenngleich nicht die optimale Handlungskonsequenz erwarten läßt. Das Gleichnis von der Suche nach der Nadel im Heuhaufen veranschaulicht das Prinzip sehr gut: Perfekt rationale Akteure suchen, bis sie die spitzeste und beste Nadel gefunden haben, begrenzt rational Handelnde bis zum Fund einer Nadel, mit der sie ihr Ziel, z.B. etwas zu nähen, erreichen können. Damit ist ebenfalls ein von SIMON stammender Begriff verbunden, nämlich das Prinzip des satisficing. Das das Prinzip des satisficing in gewisser Weise ein maximizing unter der Restriktion der Bounded Rationality darstellt, wird sich im Beispiel unten zeigen.

2.3 Die Logik der Selektion

Als vereinfachtes Beispiel zur Anwendung der Selektionsregel soll ein Bewertungsvorgang aus der Theorie der Befragung dargestellt werden: Zu erklären sei dabei die Wahl einer Handlungsalternative durch einen Akteur in einem Interview. Es wird angenommen, daß der Befragte zwei dominierende Ziele A und B bezüglich der Situation hat, denen er unterschiedlichen Intensitäten Ui der Nutzenerwartungen zuschreibt (Siehe Tab.1). Mit Ziel A verfolgt er das Ziel, durch seine Antwort seine tatsächliche Meinung auszudrücken, mit Ziel B trachtet er nach der Anerkennung des Interviewers bzw. will Mißbilligung vermeiden. Für die drei zur Evaluation stehenden Handlungsalternativen A1 bis A3 schätzt der Befragte unterschiedliche Wahrscheinlichkeiten pj ein, daß bei Wahl der Handlungsalternative das angestrebte Ziel erreicht wird. Aus dem Produkt der subjektiven Nutzenerwartung und der eingeschätzten Wahrscheinlichkeit , mit der betreffenden Handlungsalternative das Teilziel zu erreichen, errechnet sich ein SEU-Wert für eine Alternative betreffend des Teilziels: SEU=pjUi. Die Addition der zwei SEU-Werte einer Handlungsalternative ergibt den Endwert. Die Handlungsalternative mit dem höchsten Endwert wird gewählt.


Tab. 1 Ziel A:
kognitive Konsonanz mit Überzeugung (Nutzenwert U1=10)
Ziel B:
Erlangung Anerkennung Interviewer (Nutzenwert U2=5)
Endwert A+B
A1 p11= 0,8    SEUA1A= 8 p12= 0,33    SEUA1B=1,7 9,7
A2 p21= 0,2    SEUA2A= 2 p22= 0,33    SEUA2B=1,7 3,7
A3 p31= 0    SEUA3A= 0 p32= 0,33    SEUA3B=1,7 1,7

Als Lesebeispiel zur Tabelle: Das Produkt aus der eingeschätzten Wahrscheinlichkeit p11 , mit der Antwort A1 kognitive Konsonanz mit seinen Überzeugungen zu erreichen und dem Nutzwert der kognitiven Konsonanz U1 beträgt 8. Die Wahrscheinlichkeit, mit einer Antwort soziale Anerkennung beim Interviewer zu erlangen, beträgt überall 0,33, weil der Akteur über Präferenzen oder Erwartungen des Interviewers keinerlei Hinweise hat. Deswegen ist der Befragte bezüglich der Wahrscheinlichkeit unsicher und "vergibt" überall die gleiche Wahrscheinlichkeit, während er sich seiner Meinung sehr bewußt ist. Werden nun die SEU-Werte der Zeilen addiert, erhält eine Handlungsalternative den höchsten Wert, in diesem Fall A1 den Wert 9,7.


In der Realität der empirischen Sozialforschung kann jedoch das Phänomen beobachtet werden, daß Akteure sich die Mühe einer langwierigen Evaluation der zur Verfügung gestellten Handlungsalternativen gar nicht machen. Das liegt vor allem auch an der Situation der Befragung. Es handelt sich um eine low cost-Situation, die a priori für die meisten Befragten mit geringen Kosten- und Nutzenerwartungen verbunden sind. Die Wahlhandlung einer Beantwortung der Fragen läßt weder Anschlußkommunikationen noch externale Folgen für andere Akteure antizipieren. Ein langwieriges Kopfzerbrechen über die Antworten würde bezüglich des Kosten-Nutzen-Verhältnisses für die meisten Befragten eher den Grenzwert der Evaluation erreichen. Auch die Unsicherheit gegenüber den Präferenzen des Interviewers (also die geschätzte Wahrscheinlichkeit, mit einer Alternative Anerkennung zu erlangen) wäre für die Befragten meistens gerade nicht so gleichmäßig wie in der Tabelle verteilt. So kennt man in der Meinungsforschung den Ja-Sager, der überhaupt nicht darüber nachdenkt, ob er mit den Antworten seine Meinung widergibt, sondern Antworten wählt, die entweder schlicht zuerst vorgelesen werden oder den vermeintlichen mainstream eines Meinungsbildes widergeben. Der Ja-Sager greift auf eine Routine zurück, die entweder institutionalisiert ist oder mit der er ansonsten auch zumindest keine negativen Erfahrungen gemacht hat. So könnte in dem Beispiel der Tab.1 die Alternative A3 vom Ja-Sager als diejenige wahrgenommen werden, die seinen routinemäßigen Meinungsäußerungen im Familienkreis am nächsten kommt. Da es für ihn bei der Befragung kaum etwas zu gewinnen gibt und die routinemäßige Antwort nie negative (wenngleich auch vielleicht nie positive) Konsequenzen gehabt hat, zieht er die anderen Alternativen gar nicht mehr in Betracht. Bei der Unterstellung, daß der Akteur überhaupt handelt, stellt sich dann der SEU-Wert wie in Tab.2 dar:

Tab. 2 Ziel A:
kognitive Konsonanz mit Überzeugung (Nutzenwert U1=10)
Ziel B:
Erlangung Anerkennung Interviewer (Nutzenwert U2=5)
Endwert A+B
A3 p31= 1    SEUA3A= 10 p32= 1    SEUA3B=5 15

Die subjektiv eingeschätzte Wahrscheinlichkeit, mit der Routineantwort die erwünschte Handlungskonsequenz zu erreichen, beträgt also gleich 1, so daß der endgültige SEU-Wert der Summe der beiden Nutzenwerte entspricht. Der Rückgriff auf derartige Handlungsrezepte, also Routinen oder Habits, macht den weitaus größten Anteil des Handelns in der sozialen Realität aus. Das eher habituelle Handeln der Menschen in der sozialen Realität des Alltags ist oft als Argument gegen das Modell einer rationalen Wahl genannt worden. ESSER zeigt, daß der Rückgriff auf Rezepte und Daumenregeln in Alltagssituatinen aber gerade rational im Sinne der Theorie zu betrachten ist, weil die Routine jederzeit - bei Veränderung der Situation - in Frage gestellt werden kann und dann zugunsten einer evaluierten Handlungsalternative ausgewechselt wird. Ansonsten ist sie die weit ökonomischere Wahl, weil sie Kosten der Informationsbeschaffung, Evaluation und Selektion erspart und sich natürlich bereits bewährt hat - in der Praxis des Akteurs oder bei anderen Akteuren. Oft sind diese Rezepte normativ gestützt, weil institutionalisiert. Diese spezielle Form des satisficing erklärt dann auch die relativ stabilen Handlungsmuster, die in der sozialen Realität des Alltags vorzufinden sind. Erst die Veränderung der Wahrnehmung der schematischen Situation, die die Routine auslöst, z.B. durch eine Irritation der Meinungsstruktur oder ein wiederholtes Fehlschlagen der Routine, lassen den Akteur andere Möglichkeiten suchen. Ob nach anderen Handlungsalternativen gesucht wird, wäre Gegenstand eines eigenen Entscheidungsprozesses, in dem dann wieder über die Alternativen "Routine" oder "Suche nach anderen Handlungsmöglichkeiten" maximiert würde (Siehe ESSER 1990:236). Eine wichtige Frage steht am Ende dieses Kapitels: Wie weiß der Akteur überhaupt, in welcher Situation er auf eine Routine zurückgreifen kann, die ja ganz offensichtlich auch nur für bestimmte Situationen angepasst ist ?

2.4 Die Logik der Situation

Bevor Akteure überhaupt Handlungsalternativen wahrnehmen, müßen sie grundsätzlich zuvor den Sinn oder die Bedeutung einer Situation definieren, einen Relevanzrahmen oder frame entwerfen. Erst nach diesem generierten oder gespeicherten frame richtet sich die Präferenz der Ziele und Handlungsalternativen. Für die Vertreter des symbolischen Interaktionismus bestimmen diese frames, die aufgrund von Merkmalen der Situation und ihren symbolischen Verweisungen entworfen werden, das Handeln. Auf den ersten Blick sieht das wie ein Widerspruch zur rationalen Wahl und eine Wiederkehr der sozialdeterministischen Variante des homo sociologicus aus. Tatsächlich aber kann gerade die Rational Choice die Frage beantworten, warum Menschen eigentlich Routinen ausführen und bestimmte frames in speziellen Situationen den Vorzug vor anderen Deutungen erhalten. Bei den Routinen oder habits wurde bereits gezeigt, daß sie lediglich Spezialfälle der rationalen Handlungswahl sind. Ähnlich wie die Evaluation von Handlungen verursachen auch Situationsdeutungen Kosten z.B. der Informationsverarbeitung. Menschen greifen deswegen häufig auf "...allgemeine und integrierte Wissensstrukturen über einen bestimmten Bereich.." (ESSER 1990:234) zurück, sogenannte Schemata und Skripte, die eine Vereinfachung des Prozesses der Informationsverarbeitung erlauben. Durch diese kognitiven Repräsentationen erlangen Akteure ohne größeren Aufwand die notwendige Sinnorientierung. Schemata und Skripte, oft mit habits verbunden, werden durch sogenannte cues aktualisiert, eine Art Symbolschlüssel, bei deren Wahrnehmung spezielle Wissensstrukturen aktiviert werden. Es sind aber auch Situationen denkbar, gerade in einer fremden Umwelt, in denen der Abruf gespeicherter frames nicht mehr fruchtet. Hier muß der Sinn durch den Akteur (re)konstruiert werden, der nun auf seine Findigkeit und Kreativität angewiesen ist, um neue Ziele zu generieren und/oder seine Mittel den Zielen anzupassen. Das bereitet natürlich erhebliche Kosten, so daß - wo möglich - Akteure Relevanzstrukturen, Situationen und Handlungsabfolgen typisieren und bei Bedarf auf dieses Repertoire zugreifen. Es ist offensichtlich, daß die Logik der Selektion entscheidend von dieser Logik der Situation abhängt. Letztere wiederum ist nicht allein abhängig von den kreativen, institutionalisierten oder typisierten Relevanzzuschreibungen des Akteurs: Physikalische und soziale Zwänge begrenzen die Möglichkeiten der frames und choices: "People make choices, but they can not choose the choices available to them" ( FELSON 1985 : 119). Zwänge von Individuen entstehen aus zwei unterschiedlichen Arten von Restriktionen: natürlichen und sozialen constraints. Zu den natürlichen Restriktionen gehört - wie bereits erwähnt - die Bounded Rationality der Menschen, aber auch in "objektiven" Knappheiten von Ressourcen, z.B. durch begrenzte Zeit, räumliche Grenzen, Energie oder alles, was einen "objektiv" daran hindert, Handlungen auszuführen. Soziale Restriktionen bestehen aus "...institutionellen Verfassungen und aus bestimmten Arten der kulturell und symbolisch gesteuerten Definition der Situation: übergreifende und durch einen eigenen Kontrollapparat abgesicherte Regeln der Organisation des Handelns der Akteure bzw. die kurzfristige, situationsgebundene Festlegung dieser Regeln in einem interaktiven Prozeß der Koordination." (ESSER 1993:220). Aus den Verfassungen und den Situationsdefinitionen entspringen also soziale Regeln, die in einer Situation "objektiv" den jeweiligen Relevanzrahmen des Handelns bestimmen. Ein Abweichen von diesem Relevanzrahmen kann zu Verwirrung und/oder erheblichen Kosten führen: Wenn z.B. ein Autoverkäufer seinen Kunden beim Feilschen preislich unterbietet oder man versucht, in einer Fleischerei Geld von seinem Konto abzuheben. Das heißt aber nicht, daß Akteure sich immer zwangsläufig im Nachteil befinden, wenn sie in einer Situation den institutionalisierten Relevanzrahmen verlaßen: Man geht z.B. in der Regel in eine Bank, um Geld abzuheben oder einzuzahlen, finanzielle Transaktionen zu tätigen oder sich zu informieren. Der Bankräuber dagegen zwingt seinen Sinn des Bankbesuches Kunden und Personal auf und hat dadurch - so er für seine Tat nicht belangt wird - monetären Gewinn. Dennoch sind auch hier institutionelle Regeln im Spiel: Versucht der Bankräuber die Herausgabe des Geldes mit einer Banane in der Hand zu erpressen, ist der Erfolg recht zweifelhaft. Institutionalisierte Sinnzuschreibungen, Ziele und Erwartungen sind also keineswegs ein kognitives "Gefängnis", aus dem Akteure nicht ausbrechen könnten, sie können jederzeit zur Disposition stehen. Nicht selten werden Akteure sogar mit den externen Folgen ihrer eigenen Handlungen vermittels derartiger constraints konfrontiert, also einem Makrophänomen, an dessen Entstehung sie unintendiert selbst Anteil haben.

2.5 Die Logik der Aggregation

Ziel soziologischer Erklärungen ist es, soziale Phänomene zu erklären. Soziale Phänomene als Explananda erklären sich, wie bereits erwähnt, aus einer allgemeinen Handlungsregel und den Randbedingungen von typisierten Situationen. So sind z.B. Diebstahlsraten in Kaufhäusern Produkt der interdependenten Handlungen von Akteuren, die als Ladendiebe, Kaufhausdetektive, Kunden, Kaufhausmanager usw. agieren. Die besonderen Randbedingungen bestehen in den Vorgaben, daß die Kaufhausmanager den Kunden das Kaufen möglichst unkompliziert und schmackhaft machen wollen. Sicherheitsmaßnahmen gegen Ladendiebstahl treten in den Hintergrund, das Risiko potentieller Ladendiebe, erwischt zu werden, sinkt. Der Anreiz zum Konsum wirkt sich natürlich auch auf die Ladendiebe aus. Mehr Ladendiebe werden nun aktiv und die Diebstahlsrate sowie die Verluste des Kaufhauses in diesem Bereich steigen. Die Reaktion auf die hohe Diebstahlsrate besteht in der Installation von Videokameras und markierten Etiketten, so das der Diebstahl nun ein höheres Risiko als zuvor birgt bzw. erschwert wird. Zudem werden die Verluste des Kaufhauses in diesem Bereich auf die Preise umgelegt. Die voneinander unabhängigen Handlungen der Ladendiebe haben in ihrer Aggregation unintendierte Effekte sowohl für sie selbst, wie auch für das Kaufhaus und die Kunden. Für die Ladendiebe schaffen ihre eigenen Handlungen und natürlich die parallelen Orientierungen anderer Akteure neue Logiken der Situation. Hartmut ESSER (1985) zeigt in einem Beispiel - dem Modell der Erklärung von ethnischen Segmentation - wie die wechselseitig verschränkten intentionalen Handlungen der Akteure (Migranten, Einheimische und Daheimgebliebene) ungeplante Makrophänomene schaffen, die anschließend die jeweilige Logik der Situation derselben Akteure geradezu um 180° verändern können. Dabei wird auch deutlich, wie sehr constraints - ob Folgen eigenen Handelns oder exogener Natur - Ziele von Akteuren bestimmen, verändern oder restringieren können. Bei den Phänomenen der Wanderung und Segmentation handelt es sich um eher weniger alltägliche Lebenslagen, mit denen Akteure konfrontiert werden. Die Veränderungen bzw. die sozialen Phänomene wie verstärkte Migration oder soziale Spannungen sind relativ dynamisch und können z.B. als wellenförmig oder plötzlich ansteigend beschrieben werden. Dagegen wirken Alltagsphänomene, gerade bezogen auf den Umgang der Individuen miteinander, sehr stabil und erscheinen über bestimmte zeitliche Sequenzen als nahezu unverändert. Offensichtlich greifen hier Akteure auf Routinehandlungen zurück, aber ebenso offensichtlich verfolgen die Akteure dabei auch konstante Ziele auf Basis relativ konstanter Interessen. Wie kommen sie zu nun zu diesen Interessen und Zielen ?

2.6 Institutionelle und institutionalisierte Interessen und Ziele

Hartmut ESSER ist in Beantwortung dieser Frage sehr deutlich: "Die subjektiven Erwartungen und Bewertungen von Konsequenzen spiegeln die Alltagstheorien und die - immer: instititionell vermittelten - grundlegenden Ziele der Menschen wider." (ESSER 1993:247, Hervorhebung nicht im Text). Auch hier also können Akteure in ihren Zielen, Bewertungen und Handlungsselektionen nicht von einem sozialen Kontext, geschweige denn von der Situation getrennt werden. Welchen Sinn ich einer Situation zuschreibe, welche sozialen Erwartungen ich in der Situation wahrnehme und welche generellen Motive und Zwecke meine Intentionen ausmachen, ist vom Kontext meiner Lebenswelt als Welt vermittelter Symbole abhängig. Institutionelle Ordnungen als gesellschaftliche Makrophänomene stellen in dieser Welt deutlich abhebbare Komplexe sozialer Handlungs- und Beziehungsmuster dar. Sie bestimmen in wesentlichen - jedoch nicht im deterministischen Sinne - die Orientierung der Akteure an grundlegenden Interessen und Zielen. Somit reduzieren sie im sozialen Kontext die Unsicherheit des Akteure und simplifizieren die Beziehungen zwischen den Akteuren, indem sie die Ungewißheit in situativen Akteurskonstellationen verringern. Institutionelle Ordnungen können informeller oder formalisierter Natur sein: Bräuche, Sitten und Umgangsformen wären ein Beispiel für informelle Regelungen, Rechtsnormen oder Mitgliedserwartungen in einer Organisation Beipiele für Formalisierungen. Für die Bewältigung von Beziehungen und Handlungen existieren sie als Routinen, die Orientierungen und Bewertungen erleichtern. Der Befragte z.B. erwartet Fragen vom Interviewer, kann aber annehmen, von der Darbietung eines Regentanzes verschont zu bleiben. Der Käufer eines Autos kann relativ sicher sein, daß der Verkäufer sein Angebot nicht unterschreitet und der Metzger erwartet, daß der Kunde Fleisch kauft. Der Interviewer oder Verkäufer wiederum können erwarten, daß der Befragte oder Kunde spezifische situationale Erwartungen hat. Die Beziehung zwischen Interviewer und Befragtem, Verkäufer und Kunden sind mehr oder weniger unausgesprochen definiert. Grundlage dieser Orientierung an Institutionen sind drei grundlegende menschliche Fähigkeiten, die Menschen erlauben, ein institutionelles Wissen zu generieren: Menschen haben ein Bewußtsein, können lernen und haben die Fähigkeit der Abstraktion. Unter Bewußtsein wird im allgemeinen Kognitivität und damit Reflexivität verstanden: Weil Menschen keine Stimulus-Response-Maschinen sind und differenzieren können zwischen Reizen, die aus der Umwelt kommen und ihren Impulsen, sind sie fähig zur Impulshemmung (ESSER 1993:157). Die Möglichkeit der Reflexion ihrer eigenen Situation versetzt sie in die Lage, die Reaktion überhaupt zu kontrollieren. Ebenso wichtig wie das Bewußtsein ist das Lernen, also die Fähigkeit der Speicherung und (gezielten) Reaktualisierung von Erfahrungen. Damit ist eine (intrumentelle) Aktualisierung von institutionellem Wissen, frames und Bewertungsmaßstäben möglich. Die Fähigkeit der Abtraktion - oder: zur Modellbildung - versetzt Menschen in die Lage, überhaupt eine Sprache und damit gemeinsame Symbolsysteme zu entwickeln, die sinnvolle Kommunikation ermöglicht. Jede Kommunikation und jede soziale Beziehung basiert auf einem von den Akteuren geteiltem oder gemeinsam konstruiertem System von Bedeutungen und Symbolisierungen. Auf der Grundage dieser menschlichen Fähigkeiten entwickeln Menschen Wissensformen: Technisches Wissen zur Problemlösung und institutionelles Wissen zur Koordination von Handeln und Regelung von Beziehungen, z.B. Verkehrsregeln die Koordination der Bedeutung von Symbolen als kommunikative Regelung. Ohne die individuelle Bildung derartiger Wissensstrukturen durch Kommunikation und Sozialisation blieben die menschlichen Interessen und Ziele basal auf das bloße Überleben beschränkt. Für das Zusammenleben von Menschen, ihre Beziehungen und Interdependenzen fungieren diese institutionell vermittelten Wissensstrukturen als ein Reservoir für die Konstitution gemeinsamen Sinns, um eine Grundlage für aufeinander bezogenes Handeln zu liefern. Interessen und Ziele der sozial handelnden Akteure können nur aus diesem "Sinnreservoir" entspringen. Die Akteursziele und -interessen erklärenden kulturellen Kontexte, Bräuche, Sitten, Rechtsnormen oder Verfahrensregeln sind jedoch selbst zu erklärende Makrophänomene, d.h. sie werden durch die Handlungen der Akteure und durch die Veränderung oder Bildung von Akteurskonstellationen immer neu produziert. Ihre relative Stabilität schützt sie nicht vor Irritationen, die einerseits auf Änderungen von Akteurskonstellationen z.B. durch exogene Faktoren, andererseits auf die Fähigkeit der Akteure, resourceful zu sein, zurückzuführen sind. Und die Veränderungen (oder relative Stabilität) von Makrophänomenen unter Berücksichtigung spezifischer Randbedingungen und Rückbezug auf das Handeln individueller Akteure zu erklären, ist das eigentliche Ziel der Rational Choice.

3. Akteurfiktionen und institutionelle Ordnungen

3.1 SCHIMANKS Vorschlag

Uwe SCHIMANK hat ebenfalls eine "neuerliche stärkere Hinwendung zu akteurtheoretischen Konzepten" (1988:619), sprich Rational Choice beobachtet. Er geht jedoch davon aus, daß weder die moderne Systemtheorie noch die Rational Choice-Perspektive für sich genommen ausreichen, um die soziale Wirklichkeit zu erfassen. Deswegen sucht SCHIMANK nach Wegen, die jeweilige Perspektive für die andere nutzbar zu machen, indem er einen Blick auf Problembereiche der Konzeptionen wirft. So hat er auch das Problem der Rational Choice, die substantiellen Ausprägungen von Akteurinteressen zu erklären, erkannt. Mit dem Problem dieser Erklärung sieht SCHIMANK jedoch noch andere Widrigkeiten und Dilemmata verknüpft und zeichnet den Weg nach, den die moderne Rational Choice gegangen ist, indem sie durch den stärkeren Einbezug von constraints und institutionell vermittelter Sinnschemata eine wirklichkeitstreuere und bezüglich der Akteurinteressen schlüssigere Modellierung anstrebt. SCHIMANK meint, daß die Einführung von Institutionen in die Akteurtheorien primär dem Ziel gedient habe, das Problem der Interdependenzbewältigung zu lösen: Wie kann der Akteur angesichts der Ungewißheit über die unvorhersehbaren Handlungen anderer Akteure trotzdem eine relative Erwartungssicherheit gewinnen ? Institutionelle Regeln reduzieren die Ungewißheit, indem sie bei der Unterscheidung zwischen angepaßtem und weniger angepaßtem Verhalten behilflich sind. Ungewißheit aber - so SCHIMANK - ist "...nur die subjektive Erfahrung von Kontingenz: dem Sachverhalt, daß in einer Situation mehr oder weniger vieles immer auch mehr oder weniger anders möglich wäre" (1988:624). Damit wären die Akteurtheoretiker aber zu einem viel tiefer liegenden Problem vorgestoßen: dem Problem der Kontingenzbewältigung. Interdependenzbewältigung ist innerhalb dieser Problematik nur die soziale Perspektive, denn es geht bei diesem Problem nicht nur um die Frage nach den Interessen und Zielen von Alter, sondern auch um die Frage, welchen Sinn die Situation überhaupt und welche Interessen Ego - der Akteur selbst - eigentlich hat. Damit kommt SCHIMANK zu dem eingangs dieser Arbeit formulierten Problem. Das Problem der Kontingenzbewältigung ist eine Domäne systemtheoretischer Ansätze. Systeme als "Bereiche relativer Nichtzufälligkeit" (ACKERMAN, PARSONS zit.n. SCHIMANK 1988:625) ziehen ihre Grenze zur Umwelt gerade durch die Reduktion bzw. Transformation der Umweltkomplexität in eine geordnete, sinnhafte Binnenkomplexität. In dem so gegen die Umwelt abgegrenzten "Sinnsystem" sind Handlungen und Anschlußhandlungen nicht mehr beliebig, sondern stehen im Kontext der konstituierten Sinngehalte. Besonders die ausdifferenzierten gesellschaftliche Teilsysteme wie z.B. das Wissenschafts- oder das Wirtschaftssystem sind abgegrenzte Zusammenhänge hochgradig generalisierter Handlungsorientierungen, in dem die Teile des Systeme (also die an sich nicht thematisierten Akteure) orientiert sind, welche Zielrichtungen sie einschlagen können und welche sie außer acht lassen können. Im System des Leistungssports geht es zum Beispiel - akteurtheoretisch rekonstruiert - für den Sportler um den Sieg oder die Bestleistung und nicht um die körperliche Ertüchtigung (Vgl. BETTE, SCHIMANK 1995). Und im System der Massenmedien geht es für die Journalisten bei der Auswahl von Nachrichten um wie auch immer irritierende Information und nicht um das Verlesen von Lyrik (Vgl. LUHMANN 1996:58 ff.). Drei Typen von Handlungsorientierungen lassen sich unterscheiden: Kognitive Orientierungen verweisen auf Wahrnehmungen (z.B. Deutungsschemata), normative Orientierungen auf Erwartungen (z.B. Normen oder Rollenerwartungen) und evaluative Orientierungen auf Bewertungen (z.B.Motive oder Ziele). In gesellschaftlichen Teilsystemen stehen diese Orientierungen des "Seins", "Sollens" und "Wollens" in spezifischen und sinnhaften Zusammenhängen, die handlungsprägend sind. Auf diese Weise sind gesellschaftliche Teilsysteme "Fiktionen konkreter sozialer Situationen und fungieren damit als kontingenzbestimmende self-fullfilling-prophecies" (1988:631). Unter Fiktionen versteht SCHIMANK situationsdefinierende Typisierungen, die im Sinne von Als-ob-Konstruktionen der Akteure zu verstehen sind: Sie wählen sich eine Fiktion im Bewußtsein der eigentlichen Unfassbarkeit der Kontingenz aus, um gewissermaßen einen archimedischen Punkt zu haben, von dem aus Handeln erst möglich wird. Akteure behandeln damit eine Typisierung als Realität, deren fiktionaler Charakter sie aber durchaus schon erfahren und erkannt haben. Das Handeln gemäß der teilsystemischen Handlungslogik stellt einerseits eine Simplifikation der Situation und damit eine Reduktion der Anzahl der zu betrachtenden Handlungsalternativen dar, gleichzeitig aber werden die Fiktionen analog dem Thomas-Theorem self-fullfilling-prophecies, weil sich die handelnden Akteure nun der gewählten Systemlogik fügen müssen. Die Wechselseitigkeit der Fiktionen, z.B. in Form von Erwartungs-Erwartungen, machen die teilsystemischen Handlungslogiken zu intersubjektiv stabilisierten Orientierungen. Gegenüber den symbolischen-interaktionistisch geprägten frames unterscheiden sich diese Fiktionen lediglich in der starken Betonung des Als-ob, ein Unterschied, der innerhalb dieser Thematik aber vernachlässigt werden kann und eine Angleichung beider Konzepte nicht im Weg steht. SCHIMANKS Vorschlag nun ist es, diese Akteurfiktionen sowohl als Wahrnehmungsmuster als auch als zielgenerierende Abstraktionen der Akteure in die Logik der Situation einzusetzen. Das meint aber offensichtlich nicht, die institutionellen Ordnungen durch die teilsystemischen Orientierungshorizonte zu ersetzen, sondern heißt eher, eine differenziertere Modellierung von Situationslogiken zur Verfügung zu stellen. Im Gegensatz zu den hoch ausdifferenzierten und stabileren, weil eher formalisierten teilsystemischen Generalisierungen sind institutionelle Ordnungen stärker dem Wandel unterworfen - weil eher informell - und sicherlich vergleichsweise als eine Strukturdimension häufiger anzutreffen. Ein frame, der als Akteursfiktion über ein teilsystemische Logik modellierbar ist, beschreibt aber ausdifferenzierter die situationalen Elemente des "Wollens" als substantielle Interessen und "Sollens" als perzipierte Erwartungen, wie sich in einem Beispiel im nächsten Abschnitt zeigen läßt.

3.2 Der Nutzen von SCHIMANKS Vorschlag am Beispiel des Dopingphänomens im Leistungssport

Was bringt nun dieser Vorschlag SCHIMANKS ? Zum einen weist er mit Recht darauf hin, daß das Konzept gesellschaftlicher Teilsysteme gegenüber dem Institutionenkonzept theoretisch und empirisch einen immensen Vorsprung in seiner Ausarbeitung hat (1988:629). Rekonstruiert man also akteurtheoretisch die teilssystemischen Konzeptionen in der systemtheoretischen Literatur und Empirie, läge eine Implantation der Akteurfiktionen in Rational Choice-Konzepte damit auf der Hand. Eine große Anzahl von elaborierten Situationlogiken würde zur Verfügung stehen. Damit einhergehen könnte aber auch eine größere Erklärungskraft, wenn man - wie SCHIMANK - davon ausgeht, daß weder die systemtheoretische noch Rational Choice-Perspektive für sich genommen gesellschaftliche Wirklichkeit erfassen können. An dem Beispiel des Doping zeigen BETTE und SCHIMANK (1995), daß beide Perspektiven tatsächlich komplementär zueinander stehen und sich implizit einander voraussetzen. Gleichzeitig wird eine Anwendungsmöglichkeit akteurtheoretisch rekonstruierter Systemlogik demonstriert . Im modernen Hochleistungssport ist Doping mittlerweile ein bekanntes Phänomen: Regelwidrig wird durch die Anwendung verbotetener Substanzen und Praktiken sportliche Leistungssteigerung erzielt. Gesellschaftlich hoch akzeptierte Ziele werden mittels abweichender Mitteln verfolgt. Zu erklären seien die wachsenden Dopingraten bzw. die wachsende Dopingbereitschaft der Spitzensportler. Es folgt zuerst eine mögliche Erklärung aus akteurtheoretischer Perspektive, anschließend aus der Sicht der modernen Systemtheorie.

3.2.1 Doping als Gefangenendilemma

Aus der Sicht der allgemeinen Rational Choice stellt sich die Situation des Sportlers als Akteurskonstellation dar, die wie ein Gefangenendilemma modelliert werden kann. Für die Sportler in der Akteurskonstellation Ego und Alter gibt es die Wahl zwischen den Alternativen dopen und nicht dopen. Vier Permutationen sind möglich: Beide dopen (nicht), Ego dopt, Alter nicht und umgekehrt. Ego erzielt das beste Ergebnis, wenn er dopt und Alter nicht, weil er damit seine Siegchancen verbessert. Das schlechteste Ergebnis besteht in einem Verzicht auf Doping, während Alter durch Doping seine Siegchancen verbessert. Der Verzicht beider auf Doping stellt sich als das bessere Resultat gegenüber dem beiderseitigen Doping dar, weil Doping sowohl Kosten (z.B. monetärer Art) wie auch gesundheitliche Risiken birgt. Da Ego - auch infolge der Intransparenz im Doping - unsicher gegenüber der Handlungswahl von Alter ist, besteht die beste, jedoch letztlich suboptimale Wahl im Doping. In der Iteration dieser Konstellationen wird Doping dann nicht mehr angewendet, um Vorteile zu erreichen, sondern um Nachteile zu vermeiden. Denn im Leistungssport sind die körperlichen und mentalen Ressourcen in der Regel schon annähernd ausgereizt, so daß auch eine relativ geringe Leistungssteigerung den Unterschied zwischen Sieg und Niederlage ausmachen kann. Das Interesse und das Ziel des Sportlers ist hier klar definiert: Mit dem Mittel des Doping sollen die Siegchancen verbessert werden, das Ziel ist der Sieg. Mit den Mitteln der spieltheoretischen Vorgehensweise allein ist jedoch gerade dieses Ziel des Sportlers nicht zu erklären. Eine Modellierung des Dopingphänomens in Begriffen der Theorie ESSERS, also z.B der SEU würde grundsätzlich ähnlich ausfallen wie die oben gewählte spieltheoretische Variante, was aber mehr auf das Phänomen des Dopings selbst als auf einen gleichen Entwicklungstand beider akteurtheoretischen Ansätze zurückzuführen ist. Verfolgt man nämlich das Sportgeschehen und Interviews, entspricht es den Aussagen vieler Sportler, daß ihnen ist das Problem der Intransparenz und ihr eigenes Dilemma, nämlich ob der Konkurrent dopt oder nicht, sehr bewußt ist. Bei anderen Phänomenen, die durch die mathematisch grundgelegte Spieltheorie und die sozusagen erzwungene Konzeption perfekter Rationalität modelliert werden, finden sich ein derartig klares Bewußtsein über die Akteurskonstellation, wie die Sportler es hier zeigen, nicht.

3.2.2 Doping aus systemtheoretischer Sicht (LUHMANN)

Sport konstituiert sich als gesellschaftliches Teilsystem nach dem Binärcode Sieg oder Niederlage, d.h. Ziel der Sportler ist es, Siege zu erringen und Niederlagen zu vermeiden. Der Code selbst ist nicht-teleologisch oder auch schrankenlos: Es kann (und muß zur Befriedigung von Publikumsansprüchen) also immer noch höher, immer noch weiter und immer noch schneller gehen. Nebenbei exisitieren noch strukturelle Kopplungen mit anderen Teilsystemen, insbesondere dem der Massenmedien und dem des Wirtschaftssystems, die die im Sport herrschende Fortschritts- und Wachstumssemantik noch forcieren und Ressourcen zur Verfügung stellen, was eine Professionalisierung und Rationalisierung (z.B. durch Verwissenschaftlichung) des Hochleistungssportes ermöglicht. Gegen den schrankenlosen Siegescode und die Inflation der Erwartungen des Publikums, der Sponsoren und Massenmedien stehen aber physische und psychische Leistungsgrenzen der Sportlers. Dessen Devianz, sprich Doping wird durch die fortschreitende Ausdifferenzierung des Teilsystems Sport katalysiert. Nur mittels Doping können die Sportler mit dieser Ausdifferenzierung bzw. auch dem gesellschaftlichen Erfolgsdruck Schritt halten. Es finden sich genug Indikatoren , z.B. im Vorfeld der Olympiade in Atlanta oder bei der Fußballeuropameisterschaft, für den ungeheuren Druck, dem die Sportler ausgesetzt sind. So fragten verwundert die Fußballreporter bei der Europameisterschaft nach den Gründen, die einen türkischen Spieler dazu bewogen haben mochten, einen durch die Abwehrkette durchgebrochenen kroatischen Spieler nicht "umzusäbeln". Die Abweichung erscheint vor dem Hintergrund des Siegescodes quasi legitim.

3.2.3 Vergleich der Erklärungsansätze

Der systemtheoretische Ansatz erklärt das Dopingphänomen also im Rekurs auf die sich um den Sport gesellschaftlich ausdifferenzierenden Strukturen, während der akteurtheoretische Zugriff für die Erklärung die Akteurkonstellation problematisiert. Beide Erklärungen basieren aber implizit aufeinander: Das Gefangenendilemma der Sportler ensteht nur, weil der Code im Sport - also Sieg/Niederlage und nicht Gesundheitsprophylaxe oder Fairness - von gesundheitlichen oder moralischen Gesichtspunkten entkoppelt ist: Erst so kann Doping sich den Athleten überhaupt als Handlungsalternative darstellen. Auf der anderen Seite wirkt der strukturelle Druck zum Doping erst durch die Konstellation des Gefangenendilemmas und die damit verbundene Intransparenz. Die Erklärungen verhalten sich also komplementär zueinander: Für sich genommen ist die eine oder andere Erklärung des Dopingphänomens unvollständig. Zusammen genommen aber könnten sie die Erklärungskraft erheblich verbessern und das ist es, was ein akteurtheoretische Rekonstruktion systemtheoretischer Elemente, sprich Akteurfiktionen und ihre Einpassung in die Rational Choice-Theorie bzw. in die Logik der Situation so wertvoll machen könnte. Die Theorie ESSERS ist dem Vorschlag SCHIMANKS bereits ein gutes Stück entgegengekommen, weil der konstruktivistische Moment in dieser Variante der Rational Choice stark betont wird. Frames, die sich an einem teilsystemisch zur Verfügung gestellten Relevanzrahmen orientieren, dürften einen großen Anteil der in der sozialen Realität vorkommenden Interessenlagen, z.B. im Organisationshandeln ausmachen. Nur sind diesbezügliche Konzeptionen offensichtlich in der Rational Choice selbst recht wenig erarbeitet, weil das primäre Ziel bislang immer in der Erklärung sozialer Phänomene und weniger in der Erklärung von Akteurinteressen lag. Warum also sollte die Rational Choice auf eine Fülle gut ausgearbeiteter Beschreibungen von generalisierten Interessen- und Handlungsmustern verzichten, die die Systemtheorie in den letzten Jahren zur Verfügung gestellt hat ?

4. Zusammenfassung

In den Modellen der modernen Rational Choice ist deutlich der Versuch zu erkennen, stärker realistische Annahmen über die Natur des Menschen und sein Entscheidungsverhalten als Grundlage der Theorie zu formulieren. Vor dem Hintergrund eines adäquateren Menschenbildes, des RREEMM-Modells entscheiden Akteure unter den natürlichen Restriktionen der Bounded Rationality und unter den constraints der Situation nach ihren subjektiven Wahrnehmungen und Nutzenerwartungen. Dabei sind "Abkürzungen" und "Daumenregeln" in der Handlungswahl größtenteils wesentlich angepasster als langwierige Evaluations- und Problemlösungsprozesse. Welcher Sinn einer Situation zugeschrieben wird und welche Ziele dominant sind, hängt vom individuellen Entwurf der Situation, dem frame ab. Frames leiten sich grundsätzlich aus institutionell vermittelten Wissensstrukturen der Akteure her, auf deren alleiniger Basis gehandelt wird. Institutionelle Ordnungen sind Makrophänomene, die sich durch das Handeln der Akteure verändern können und somit die gleichen Akteuren mit den unintendierten Folgen ihres Handelns konfrontiert, indem sowohl veränderte Sinn- als auch Zielvorgaben Akteuren als constraint entgegentreten. Somit liefert die Rational Choice nicht nur eine Erklärung für substantielle Interessen von Akteuren in der Logik der Situation, sondern auch die Genese dieser Interessen erklären. Eine interessante Ergänzung bzw. Erweiterung des Institutionskonzepts der Erklärung von Interessen regt Uwe SCHIMANK an: Er schlägt vor, den reichhaltigen Analysen der Systemtheorie - akteurtheoretisch rekonstruiert - teilsystemische Codes, Handlungslogiken und generalisierte Handlungsmuster zu entnehmen und in der Form von Akteurfiktionen in die Logik der Situation einzubringen. Da Rational Choice und moderne Systemtheorie sich implizit gegenseitig dort in ihren Erklärungsansätzen voraussetzen, wo sie sozusagen "blinde Flecken" in der Theorie haben, verspricht eine solche Vorgehensweise sowohl Erkenntnisgewinn wie auch eine größere Erklärungskraft. Zumindest aber kann die Rational Choice durch diese akteurtheoretisch rekonstruierten Elemente der Systemtheorie die reichhaltige systemtheoretische Literatur für ihre Zwecke nutzen und zum Sprechen bringen.

LITERATUR
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BETTE , Karl-Heinz
SCHIMANK , Uwe   1995   "Doping im Hochleistungssport", Frankfurt a.M. 1995

DÖRENBACH , Wilfried    1982   "Bounded Rationality. Problemlösung bei kognitiven Beschränkungen des Individuums und Komplexität der Umwelt", Europäische Hochschulschriften Bd.62, Frankfurt a.M./ Bern 1982

ESSER , Hartmut   1993    Soziologie. Allgemeine Grundlagen. , Frankfurt a.M. / New York 1993

--------    1990   "Habits , Frames und Rational Choice- Die Reichweite von Theorien der rationalen Wahl am Beispiel der Erklärung des Befragtenverhaltens", ZfS 4 August, 1990 , S.231-247

--------    1985   "Soziale Differenzierung als ungeplante Folge absichtsvollen Handelns : Der Fall der ethnischen Segmentation", ZfS 6 , 1985 , S.435-449

LUHMANN , Niklas   1996   "Die Realität der Massenmedien" , Opladen 1996

FELSON , Marcus   1986   "Linking criminal choices, routine activities, informal control, and criminal outcomes" , in: CLARKE,R.V., CORNISH,D.B. "The reasoning criminal", New York 1986, S.119-128

RAUB , Werner
VOSS , Thomas    1981   "Individuelles Handeln und gesellschaftliche Folgen" , Darmstadt 1981

SCHIMANK , Uwe   1988   "Gesellschaftliche Teilsysteme als Akteurfiktionen", KZfSS 3, 1988, S.619-639

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